27/01/2013

Proust für Eilige: Die besten Stellen aus Im Schatten junger Mädchenblüte (7)

Doch das Genie, sogar schon das große Talent leitet sich weniger aus Faktoren der Intelligenz oder speziellen Verfeinerung her, welche die der anderen in den Schatten stellen, als aus der Fähigkeit, sie umzuwandeln, sie zu transponieren. Um eine Flüssigkeit mit einer elektrischen Lampe zu erhitzen, braucht man nicht eine extra starke Lampe, sondern eine, in der der Strom nicht mehr Licht, sondern nach einer entsprechenden Umformung eben Wärme spendet. Um sich in den Lüften zu ergehen, braucht man nicht ein denkbar kräftiges Automobil, sondern eines, das die Erde verlassen, die Linie, welche es vordem verfolgte, zur Vertikalen umbiegen und die Geschwindigkeit seiner Bewegung in der Ebene in Auftriebskraft verwandeln kann. Ebenso sind diejenigen, die geniale Werke hervorbringen, nicht Menschen, die in dem feinsinnigsten Milieu leben, in der Unterhaltung glänzen, über die breiteste geistige Kultur verfügen, sondern die, welche die Kraft gefunden haben, von einem gewissen Augenblick an nicht länger für sich selbst zu leben, sondern ihre Persönlichkeit zu einem Spiegel zu machen, der ihr Dasein, mag es auch gesellschaftlich und in gewissem Sinne sogar geistig betrachtet noch so mittelmäßig sein, reflektiert; denn das Genie besteht in solcher Kraft des Zurückstrahlens und nicht in der Qualität, die dem widergespiegelten Geschehen von sich aus innewohnt.

Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 170-171

25/01/2013

Proust für Eilige: Die besten Stellen aus Im Schatten junger Mädchenblüte (6)

Er erklärte mir, der Raum, in den Gilberte sich begebe, sei die Wäschekammer, erbot sich, ihn mir zu zeigen, und versprach, er werde Gilberte, wenn sie dort zu tun habe, mich jedesmal mitnehmen heißen. Durch diese Worte und die Entspannung, die sie mir verschafften, brachte Swann mit einem Male die furchtbaren inneren Distanzen zum Schwinden, durch die eine Frau, die wir lieben, uns so fern erscheint. In solchen Augenblicken hegte ich ein Gefühl der Zärtlichkeit für ihn, das ich für tiefer hielt als meine Zuneigung für Gilberte. Denn er, der Herr über seine Tochter war, gab sie mir, während sie sich zuweilen entzog, und ich hatte von mir aus nicht so viel Macht über sie wie indirekt durch Swann. Sie aber liebte ich und konnte sie dementsprechend nicht ohne jene Unruhe sehen oder ohne jenes Verlangen nach mehr, das einem in Gegenwart des geliebten Wesens das Gefühl der Liebe benimmt.

Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 137

23/01/2013

Proust für Eilige: Die besten Stellen aus Im Schatten junger Mädchenblüte (5)

Aber während er sich früher geschworen hatte, er werde, wenn er jemals diejenige zu lieben aufgehört hätte, von der er noch nicht wußte, daß sie eines Tages seine Frau sein werde, ihr rücksichtslos seine endlich echte Gleichgültigkeit zu verstehen geben, um seinem so lange gedemütigten Stolz Genugtuung zu verschaffen, legte er auf diese Repressalien die er jetzt unbesorgt ausüben konnte (denn was machte es ihm schon aus, der intimen Zusammenkünfte mit Odette verlustig zu gehen, die ihm einst so notwendig waren), keinen Wert mehr; mit der Liebe war auch sein Verlangen geschwunden, zu zeigen, daß keine Liebe mehr in ihm war.

Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 132

21/01/2013

Proust für Eilige: Die besten Stellen aus Im Schatten junger Mädchenblüte (4)

Besonders aber durch die Bemerkung über meine Neigungen, die sich nicht mehr ändern würden, und über das, was dazu dienen könnte, mein Geschick glücklich zu gestalten, pflanzte er in mich zwei Formen überaus schmerzlichen Argwohns ein. Die erste galt dem Umstande, daß (wo ich mich doch Tag für Tag noch auf der Schwelle eines bislang unberührten Lebens glaubte, das erst morgen beginnen werde) meine Existenz bereits ihren Anfang genommen hatte, ja schlimmer noch, daß das, was käme, nicht allzu verschieden von dem sein werde, was vorausgegangen war. Der zweite Argwohn, der genau genommen nur eine andere Form des ersten war, bezog sich darauf, daß ich offenbar nicht außerhalb der Zeit existierte, sondern ihren Gesetzen unterworfen war, ganz wie die Personen in einem Roman, deren Lebensabläufe mich aus diesem Grunde bei der Lektüre in meiner Combrayer Rohrhütte stets mit soviel Wehmut erfüllt hatten. Theoretisch weiß man, daß die Erde sich dreht, in Wirklichkeit aber merkt man es nicht; der Boden, auf dem man schreitet, scheint sich nicht zu rühren, und so lebt man ruhig dahin. Ebenso aber ist es im Leben mit der Zeit. Um ihren Flug uns bewußt zu machen, haben die Romanschriftsteller nötig, den Lauf des Zeigers stark zu beschleunigen und den Leser zehn, zwanzig, dreißig Jahre in zwei Minuten durchmessen zu lassen. Oben auf der Seite hat man sich von einem hoffnungsvollen Liebhaber getrennt, und unten auf der nächsten findet man einen Achtzigjährigen wieder, der auf dem kleinen grasbestandenen Hof eines Altersheims mühselig seinen täglichen Spaziergang absolviert und dabei kaum auf die an ihn gerichteten Fragen Rede stehen kann, da er das Vergangene längst vergessen hat. Dadurch, daß mein Vater von mir sagte: 'Er ist kein Kind mehr, seine Neigungen werden sich nicht mehr ändern', hatte er mir mit einem Schlage mich selbst als in der Zeit existierend gezeigt und mich in die gleiche Art von Trauer gestürzt, als sei ich, wenn auch noch nicht gerade der vertrottelte Hospitalinsasse, so doch einer jener Helden, von denen der Autor in dem gleichgültigen Ton, der so besonders grausam ist, am Ende eines Buches sagt: 'Kaum noch einmal verläßt er sein Dorf. Er hat sich dort für immer zu Ruhe gesetzt', oder dergleichen mehr.

Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 77

19/01/2013

Proust für Eilige: Die besten Stellen aus Im Schatten junger Mädchenblüte (3)

"Wie sagt doch ein schönes arabisches Sprichwort: 'Die Hunde bellen und die Karawane zieht vorüber.'" Nach diesem Zitat schwieg Monsieur de Norpois einen Augenblick, um uns anzuschauen und die Wirkung seiner wörtlichen Anführung auf uns abzuschätzen. Sie war groß, das fragliche Sprichwort war uns bereits bekannt. Es war in diesem Jahre bei den Großen an die Stelle einer anderen Wendung getreten, die gelautet hatte: 'Wer Wind sät, wird Sturm ernten', die Ruhe nötig hatte, denn sie war nicht so widerstands- und lebensfähig wie: 'Travailler pour le roi de Prusse'. Diese Herrschaften nämlich bestellten den Acker ihres Geistes nach dem Prinzip des Fruchtwechsels, dessen Turnus zur Zeit drei Jahre lief.

Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 49

17/01/2013

Proust für Eilige: Die besten Stellen aus Im Schatten junger Mädchenblüte (2)

Mein Vergnügen steigerte sich noch, als ich hinter diesem noch geschlossenen Vorhang verworrene Geräusche hörte, wie man sie unter der Schale eines Eies vernimmt, bevor das Küken ausschlüpft, Geräusche, die allmählich zunahmen und sich plötzlich aus dieser für unsere Augen unzugänglichen Welt, die uns gleichwohl ihrerseits mit ihren Blicken umfaßt, in ganz unbezweifelbarer Weise in der gebieterischen Form eines dreimaligen Klopfens, das so aufregend war wie Signale vom Planeten Mars, an uns wendeten.


Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 29

15/01/2013

Proust für Eilige: Die besten Stellen aus Im Schatten junger Mädchenblüte (1)

Aber der tiefere Grund, der sich übrigens auf die Menschheit im allgemeinen anwenden läßt, war der, daß unsere Tugenden in sich selbst nichts frei Verfügbares sind, mit dem wir nach Belieben schalten und walten können; sie gehen in unserem Geist schließlich eine so enge Verbindung mit den Handlungen ein, bei denen wir uns ihre Ausübung erstmalig zur Pflicht gemacht haben, daß eine plötzlich von uns verlangte Betätigung ganz anderer Art unvorbereitet trifft und gar nicht auf den Gedanken kommen läßt, hier könnte ihre Anwendung ebenfalls angezeigt sein.

Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 10

13/01/2013

Model Learning: The Negative Version

It is also important that cheaper types of reading, if hitherto followed, be dropped. Popular magazines inculcate a careless and deplorable style which is hard to unlearn, and which impedes the acquisition of a purer style.

H.P. Lovecraft, Writings in the United Amateur, 1915-1922 (quoted here)