21/01/2013

Proust für Eilige: Die besten Stellen aus Im Schatten junger Mädchenblüte (4)

Besonders aber durch die Bemerkung über meine Neigungen, die sich nicht mehr ändern würden, und über das, was dazu dienen könnte, mein Geschick glücklich zu gestalten, pflanzte er in mich zwei Formen überaus schmerzlichen Argwohns ein. Die erste galt dem Umstande, daß (wo ich mich doch Tag für Tag noch auf der Schwelle eines bislang unberührten Lebens glaubte, das erst morgen beginnen werde) meine Existenz bereits ihren Anfang genommen hatte, ja schlimmer noch, daß das, was käme, nicht allzu verschieden von dem sein werde, was vorausgegangen war. Der zweite Argwohn, der genau genommen nur eine andere Form des ersten war, bezog sich darauf, daß ich offenbar nicht außerhalb der Zeit existierte, sondern ihren Gesetzen unterworfen war, ganz wie die Personen in einem Roman, deren Lebensabläufe mich aus diesem Grunde bei der Lektüre in meiner Combrayer Rohrhütte stets mit soviel Wehmut erfüllt hatten. Theoretisch weiß man, daß die Erde sich dreht, in Wirklichkeit aber merkt man es nicht; der Boden, auf dem man schreitet, scheint sich nicht zu rühren, und so lebt man ruhig dahin. Ebenso aber ist es im Leben mit der Zeit. Um ihren Flug uns bewußt zu machen, haben die Romanschriftsteller nötig, den Lauf des Zeigers stark zu beschleunigen und den Leser zehn, zwanzig, dreißig Jahre in zwei Minuten durchmessen zu lassen. Oben auf der Seite hat man sich von einem hoffnungsvollen Liebhaber getrennt, und unten auf der nächsten findet man einen Achtzigjährigen wieder, der auf dem kleinen grasbestandenen Hof eines Altersheims mühselig seinen täglichen Spaziergang absolviert und dabei kaum auf die an ihn gerichteten Fragen Rede stehen kann, da er das Vergangene längst vergessen hat. Dadurch, daß mein Vater von mir sagte: 'Er ist kein Kind mehr, seine Neigungen werden sich nicht mehr ändern', hatte er mir mit einem Schlage mich selbst als in der Zeit existierend gezeigt und mich in die gleiche Art von Trauer gestürzt, als sei ich, wenn auch noch nicht gerade der vertrottelte Hospitalinsasse, so doch einer jener Helden, von denen der Autor in dem gleichgültigen Ton, der so besonders grausam ist, am Ende eines Buches sagt: 'Kaum noch einmal verläßt er sein Dorf. Er hat sich dort für immer zu Ruhe gesetzt', oder dergleichen mehr.

Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 77

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